Im Würgegriff der Politik 18. Juni 2023 Günther Jauch enthüllt nach 27 Jahren noch einmal einen bekannten ZDF-Skandal

Von Stefan Niggemeier

Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und "BILDblog". Er hat unter anderem für "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" und den "Spiegel" über Medien berichtet.

Ein Skandal erschüttert das ZDF: Der beliebte Moderator Günther Jauch hat scheinbar ungeahnte Abgründe der politischen Einflussnahme beim Sender enthüllt. Ausgerechnet in einem Gespräch mit dem "Offenen Kanal Bitburg", das bereits Ende April stattfand, inzwischen von dessen Youtube-Seite gelöscht wurde, aber jetzt vom Medienmagazin "Die Mediatheke" weiterverbreitet wird.

Screenshots: "Massengeschmack.tv" / "Bild"

Es geht um den ZDF-Jahresrückblick "Menschen", den Jauch bis 1995 jedes Jahr moderierte - und dann plötzlich nicht mehr. Jauch erzählt, dass die Sendung aus der Rheingoldhalle in Mainz kam. In den ersten Reihen saßen jeweils die Honoratioren. Wenn geklatscht wurde, schwenkte die Regie auf wichtige Menschen wie den damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck.

Jauch weiter:

"Und unmittelbar nach Ende der Sendung [Ende 1995] wurde Kurt Beck hinterbracht, dass er in der dreistündigen Sendung irgendwie sechsmal im Bild war und der Oppositionsführer Joannes Gerster, der sei elfmal im Bild gewesen. Und das würde ein Nachspiel haben. Dann kam ein aufgeregter ZDF-Programmdirektor: Wir haben große Probleme, Herr Jauch, und hin und her und deswegen etc., und tatsächlich fand ein Deal statt danach zwischen Intendant des ZDF und Beck, dass er sich drei Themen für die ‚heute'-Sendung aussuchen durfte, Autobahneröffnung oder sonstwas, um da wieder entsprechend einen Ausgleich zu bekommen. Und als ich das mitbekommen habe - das war wirklich unfassbar - hab ich gesagt: Passt auf Leute, das nächste Jahr machen wir mal eine Denkpause, ich setze mal aus."

Unfassbar, alt und bekannt

Die Geschichte ist wirklich unfassbar und deshalb ist es auf den ersten Blick nachvollziehbar, dass sie heute auf vielen Nachrichtenseiten steht. Sie ist aber nicht nur unfassbar, sondern auch alt und - bekannt. Sie machte nämlich auch vor 27 Jahren schon Schlagzeilen.

Die "Frankfurter Rundschau" etwa berichtete am 17. Januar 1996 unter der Überschrift:

Ein Ministerpräsident fühlt sich stark unterbelichtet

Konkret war es laut FR der rheinland-pfälzische Staatssekretär für Bundesangelegenheiten und inoffizielle Medienbeauftragte der Landesregierung, Karl-Heinz Klär (SPD), der sich beschwerte, dass Beck nicht häufig genug im Bild gewesen sei. Klär war auch Mitglied im ZDF-Fernsehrat und schrieb einen Brief an dessen Vorsitzenden Konrad Kraske (CDU), in dem er von "ZDF-Schleichwerbung für einen CDU-Wahlkämpfer" in "unverschämter Form" sprach. Seine Frau habe als als Zuschauerin "aus Jux mitgezählt": "Als der CDU-Landesvorsitzende zum 13. Mal ins Bild gerückt worden war, wollte meine Frau (…) das definitiv nicht mehr für Zufall halten", so Klär.

Beck, auf den angeblich nur vier mal geschwenkt wurde, sei zum "Feigenblatt einer PR-Veranstaltung für seinen Wahlkampfgegner" degradiert worden. Klär forderte laut FR nicht weniger, als alle "Verantwortlichen und relevanten Mitarbeiter der Sendung sämtlich einzubestellen, damit sie befragt werden können."

In Rheinland-Pfalz standen damals Wahlen an: am 24. März, drei Monate nach der "Menschen"-Sendung.

Die "Süddeutsche Zeitung" berichtete am 19. Januar 1996 über den Vorfall unter Klärs Zitat: "Wir wollten das nicht für Zufall halten". Sie fügte die Information hinzu, dass man in der SPD vermute, dass "CDU-Kader in den mittleren ZDF-Etagen das Ding gedreht hätten: Den Gerster eingeladen und ihm einen schönen Platz besorgt; damit die Sache nicht auffällt, den Beck noch schnell dazugeladen". Die SZ zitiert einen anonym bleibenden Sozialdemokraten mit den Worten: "Das ist so das übliche Zusammenspiel."

Die SZ hatte damals auch schon tolle Zitate von Jauch zu der Sache:

"Moderator Jauch sagt, die Schwenks seien Zufall, nichts als Zufall gewesen, und es sei ‚völlig absurd, da irgendwas zu konstruieren'. Klärs Brief zeige, wie sehr das öffentlich-rechtliche Fernsehen ‚im Würgegriff der Parteien' sei. ‚Wenn man das verfilmen würde!' Und wo sich Jauch schon aufregt: Er habe bei der Menschen-Sendung ganz normale Leute im Publikum haben wollen, und nicht die Gremiums-Mitglieder mit ihren Freikarten vom ZDF. Aber was war? ‚Fast alle Karten gingen an die Stützstrumpf-Fraktion.' Funktionäre im Saal statt Fans - klar, dass die Stimmung nicht sehr toll gewesen sei."

Genau diese Klage hatte Jauch jetzt auch im "Offenen Kanal Bitburg" nochmal geäußert.

Ärgerliche Panne

Aktuelle Schlagzeilen über einen Skandal von 1995
Screenshots: "Berliner Zeitung", SVZ, "Focus Online", "T-Online"

Das ZDF nahm die Beschwerde der SPD damals ernst. Der Sendersprecher nannte die Kameraschwenks gegenüber der SZ eine "Panne", die nun leider nicht mehr zu reparieren sei.

Im Februar kroch der damalige ZDF-Intendant Dieter Stolte zu Kreuze. Gegenüber dem Fernsehrat versprach er, "ärgerliche" Vorkommnisse wie die bei "Menschen '95" würden sich nicht wiederholen.

Auch der "Deal" zwischen Intendant und Beck war damals schon bekannt und öffentlich. SPD-Politiker Klär selbst sprach gegenüber der Nachrichtenagentur epd davon: Stolte habe einen "Ausgleich" zugesagt; dazu gehöre ein ZDF-Beitrag zur Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille an Mario Adorf durch Ministerpräsident Kurt Beck.

Klär behauptete, es sei "objektiv" zu einer unerlaubten Schleichwerbung für den CDU-Landesvorsitzenden gekommen. Und der Fernsehratsvorsitzende Kraske erklärte, die Kritik sei "verständlich" und der Eindruck eines "unfairen Verhaltens" des Senders gegenüber Beck verständlich. Zukünftig sollten Bildregie und Gästeprotokoll bei Sendungen mit Studiopublikum besser aufeinander abgestimmt werden.

Was genau ist der Skandal?

Es ist faszinierend, wie sehr die Sache auch 1996 schon als Skandal diskutiert wurde - aber als Skandal einer angeblichen einseitigen Beeinflussung einer Landtagswahl durch die Regie einer Unterhaltungssendung. Jauch hingegen prangerte auch damals schon den Einfluss der Partien auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an - und sagte Mitte des Jahres auch öffentlich und unter ausdrücklichem Verweis auf den Politikerstreit die Moderation des nächsten ZDF-Jahresrückblicks ab: "Organisatorisch ist zuletzt vieles nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt habe", sagte er gegenüber der "Bild am Sonntag".

Diese Quelle ist wiederum insofern lustig, weil es die "Bild"-Zeitung ist, die heute besonders laut Aufklärung vom ZDF wegen dieses vermeintlich jetzt bekannt gewordenen Skandals verlangt. "Über Jauchs Vorwürfe, die in der Vergangenheit liegen, will das ZDF nichts sagen", klagt das Blatt. "Dabei sind die Vorwürfe gegen den Sender gravierend. Doch eine mögliche Prüfung der Vorgänge kündigt das ZDF nicht an, weist jegliche politische Einflussnahme einfach von sich."

Ein Blick ins Archiv hätte vielleicht Antworten erbracht, die das ZDF nicht geben wollte.

Er hätte vielleicht auch gezeigt, dass früher manche Dinge bei den Öffentlich-Rechtlichen noch schlimmer waren als heute. Aber er hätte vielen Medien und Kritikern von ARD und ZDF vielleicht auch ein bisschen Schwung aus der frischen neuen Empörung genommen. Ein rechter Alternativ-Journalist forderte schon, "im Abwasser dieser schmutzig-stinkenden Geschichte müssten jetzt auch die Köpfe von Georg Restle, Böhmermann und Co rollen".


Quelle: Übermedien.de